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Dagmar
Wilde
IX, 2. Schulpraktisches Sem. (L)
Fachseminar für vorfachlichen Unterricht
Von der Heimatkunde
zum Sachunterricht
Reformpädagogik
Pädagogische Ideen im
Zeitraum 1890 bis 1933 - größtenteils gründend auf Berichten
von Praktikern - denen generelle Kritik an der herkömmlichen Lernschule
wilhelminischer Zeit immanent war.
Merkmale
-
Lernenden
wird Produktivität zugestanden,
-
Lehrer
(Unterrichtsorganisatoren) werden als schöpferische Persönlichkeiten
gesehen,
-
Lernen
wird als lebendiger, selbsttätiger Prozeß verstanden,
-
Schule
soll Lebens- und Lernort sein,
- Schulische
Arbeit wird als komplexe Tätigkeit betrachtet, die alle Kräfte
der Lehrenden und Lernenden mobilisiert (ganzheitliche Erziehung).
Gesamtunterricht
Sammelbegriff
(geprägt von Bertold Otto, 1913) für relativ heterogene reformpädagogische
Unterrichtskonzeptionen
-
"freier
Gesamtunterricht" (Berthold Otto): Kinder wählen aus "eigenem
Erkenntnistrieb" den individuell förderlichsten Entwicklungsgang,
Konzept eines "natürlichen Unterrichts" vom Kinde aus, Lehrer
als Helfer, "Gespräch am Familientisch",
-
"gebundener
Gesamtunterricht" (Leipziger Lehrerverein): identische Annahmen über
kindliche Lernprozesse, jedoch wird aktives Planen und Steuern der
Lehrer/innen als unverzichtbares didaktisches Element gesehen. (Diese
Konzeption des Gesamtunterrichts fand Eingang in die Lehrpläne.)
didaktische
Leitlinien
-
Fächerübergreifende
Unterrichtsgestaltung; Konzentration der Sachfächer um einen
thematischen Mittelpunkt, in Form einer Sacheinheit mit konkreten
und kindgemäßen Inhalten (vorwiegend aus dem heimatkundlichen
Anschauungsunterricht),
-
Prinzip
des Wachsen- und Reifenlassens,
-
Grundlegung
für den späteren Fachunterricht,
-
freies
Unterrichtsgespräch
Ziele
-
Überwindung
der tradierten Lernschule und Lebensweltferne,
-
Überwindung
der frühen Auffächerung und Spezialisierung durch Aufgreifen
kindlicher Interessen, Neigungen und Lernbedürfnisse,
-
nichtfachliche
Zugriffsweisen, ganzheitliches Lernen werden durch geistige Wachstums-
und Reifungsprozesse der Kinder begründet.
Kritik
(Mitte der 60er Jahre einsetzend)
-
zugrundeliegende
Reifungs- und Begabungstheorien, statische entwicklungspsychologische
Phasen,
-
heimat-
und kindertümelnde Attitüde,
-
schulpraktische
Ausprägungen: Beliebigkeit der Konzentration oberflächlicher,
trivialer und z. T. zwanghafter Querverbindungen ("Klebekonzentration")
unter einem Leitthema,
- lehrerzentriertes
unterrichtliches Vorgehen.
Heimatkunde
Historische
Entwicklung
-
1816:
C. W. Harnisch prägt den Begriff für einen neu konzipierten
Lernbereich der Volksschule (integrative Verflechtung der Inhalte
verschiedener Realien; Heimat als Lebensraum, der durch konkret-sinnliche
Erfahrung und selbsttätiges Handeln zu erschließen war).
-
1844:
Weiterentwicklung durch F. A. Finger (stark propädeutischer Ansatz
für den Geographieunterricht).
-
1972:
Heimatkunde wurde Teil des Fachs Geographie in der Mittelstufe der
Volksschule.
-
1908:
Heimatkunde wird erstmals in Preußen eingeführt.
-
1920:
Nach der Reichsgrundschulkonferenz wird Heimatkunde als Unterrichtsfach
für die Grundschule verbindlich.
-
1921:
Lehrpläne für die Grundschule sehen für das 1./2. Schuljahr
- als Teil des Gesamtunterrichts - heimatlichen Anschauungsunterricht,
für das 3./4. Schj./ Heimatkunde i. e. S. vor, die der Vorbereitung
des späteren erdkundlichen, naturkundlichen und geschichtlichen
Unterrichts dient. Gesinnungsbildende Intentionen fanden kaum Niederschlag,
allerdings reformpädagogische Einflüsse (Gesamtunterricht,
Pädagogik vom Kinde aus).
-
1923:
E. Spranger "Vom Bildungswert der Heimatkunde" (Vortrag); Deutschtum
soll durch Heimat- und Vaterlandsliebe bewahrt werden.
-
1933
bis 1945: Themen, Lehrverfahren und Arbeitsformen bleiben - vor dem
Hintergrund ideologischer Zielvorgaben - weitgehend unverändert;
völkische Heimatkunde und Heimaterziehung gelten als Fundament
der Volksschulbildung.
-
ab
1950: die neuen Lehrpläne knüpfen direkt an die Richtlinien
der 20er Jahre an.
-
in
der ehemaligen DDR existierte Heimatkunde als "Kunde von der sozialistischen
Heimat" bis 1989 als Unterrichtsfach.
-
in
der Bundesrepublik knüpfen die Lehrpläne inhaltlich an die
Heimatkunde der Weimarer Grundschule an, Rekurs auf Sprangers Schrift
aus 1923.
-
60er/70er
Jahre: zunehmend wird Kritik am Heimatkundeunterricht geäußert.
Internationale Forschungsergebnisse legen "Modernitätsrückstand"
des deutschen Schulsystems offen.
Inhalte
und Ziele
-
Gegenstand
waren die direkte Umwelt bzw. der Erfahrungsbereich der Kinder (Prinzip
der Lebensnähe, Prinzip der konzentrischen Kreise).
-
Die
Lehrpläne zielten mit der "Erschließung der räumlichen
und geistigen Kinderheimat" auf "Heimatliebe" und "Heimattreue", "Heimaterziehung"
strebte "Heimatbewußtsein" an (Gesinnungs- und Gemütsbildung,
Bindung an die Heimat).
-
Kriterium
für die Auswahl der Inhalte war "Kindgemäßheit", Bildungsinhalte
wurden Entwicklungsphasen zugeordnet ("Fassungskraft" und "geistige
Wachstumsbedürfnisse" des Kindes).
Kritik
(in den späten 60er Jahren einsetzend)
-
Reifungstheorien,
statischer, biologistischer Begabungsbegriff
-
überkommenes
Verständnis von Kindgemäßheit (Dogma "Vom Nahen zum
Fernen", Kindertümelei, Antropomorphisierung, magisch-mythische
Darstellung von Sachverhalten), verklärende Sicht auf Kind und
Heimat,
-
Konzeption
volkstümlicher Bildung (für den einfachen, praktischen Menschen...),
-
Gesinnungs-
und Gemütsbildung (Harmonisierung des Gemeinschaftslebens),
-
Diskrepanz
zwischen Erfahrungswelt der Kinder und "heiler" bäuerlich-handwerklicher
Idylle des Heimatkundeunterrichts,
-
Erstarrug
in Standardthemen, Dominanz geographischer und heimatgeschichtlicher
Inhalte, Vernachlässigung naturwissenschaftlich-technischer Themen,
-
gesellschaftlicher
Wandel (Industrialisierung, Mobilität, gesellschaftliche Entwicklungen
und Konflikte),
-
Monismus
der Unterrichtsformen und -methoden (lehrgangsorientiertes, lehrerzentriertes
Vorgehen, Anschauungsunterricht anstelle von handelndem Lernen),
- Überbewertung
der Stoffkenntnis.
Sach(kunde)unterricht
Hintergründe
-
neue Befunde über Begabung und Lernen (Heinrich Roth, 1968), kompensatorische
Förderung
-
lernpsychologische, erziehungs- und sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse
(Bruner, Piaget),
-
Hinwendung der Grundschule zu den Natur- und Sozialwissenschaften,
-
curriculare Einflüsse aus dem angloamerikanischen Raum (Lernschritte,
Lernziele).
-
veränderte gesellschaftliche Bedingungen und Erweiterung der Erfahrungsräume
der Kinder,
-
veränderte Sicht auf Aufgaben der Grundschule
-
dynamischer Begabungsbegriff (Förderung durch geeignete Auswahl,
Anordnung und Präsentation der Lerninhalte),
-
verändertes Verständnis von Kindgemäßheit (Kinder
wenden sich im Grundschulalter spontan Fragestellungen und Erkundungsweisen
zu, die Ansatzpunkte für wissenschaftsbezogenes Lernen bieten),
-
Begriff der Wissenschaftsorientierung (Unterricht als rationaler Weg zu
den Wissenschaften).
-
1970
wird im "Strukturplan für das Bildungswesen" eine "Neugliederung
des bisherigen Gesamtunterrichts als Sachunterricht (gefordert), in
dem historisch-kulturelle Gehalte, sozial- und gesellschaftliche sowie
naturwissenschaftliche Inhalte und Verfahren angemessen berücksichtigt
werden".
-
Hinweise
zum Lernbereich Sachunterricht in den 1970 veröffentlichten "Empfehlungen
zur Arbeit in der Grundschule" der KMK-Konferenz.
-
Fülle
curricularer Vorschläge zum Sachunterricht (zuerst dominierten
naturwissenschaftlich-technische Inhalte und Verfahren, z. B. konzept-
und verfahrensorientierte Curricula); Zeitraum der "teacher-proof"
Arbeitsmaterialien.
-
Eigengesetzlichkeit
der Fächer, ihrer Strukturen, fachspezifischen Fragestellungen
und Verfahren steht zunächst im Vordergrund, stoffliche Überfrachtung
und Fachpropädeutik sind zu beobachten.
-
In
der ersten Generation der neuen Rahmenpläne (1968 - 1972) wurde
Wissenschaftsorientierung als Fächerorientierung verstanden:
erst Mitte der 70er Jahre Versuche, neues Gleichgewicht zwischen Wissenschaftsorientierung
und Kindgemäßheit herzustellen (1972 - 1977). Heimatbezug
wurde in späteren Lehrplänen (Bayern) wieder aufgegriffen,
um unmittelbare Lebenswelt der Kinder stärker zu akzentuieren.
-
In
den 80er Jahren gewannen grundschulpädagogische Strömungen
Einfluß: Öffnung des Unterrichts, Individualität der
kindlichen Lernprozesse, Kindheit heute, situative Interessen.
- In den
90er Jahren Renaissance des Heimatbegriffs (bei einem aktiven und kreativen,
weltoffenen Verständnis von Heimat).
Sachunterricht
der 90er Jahre
Sachunterricht,
als zentraler Lernbereich der Grundschule, der die Heimatkunde ablöste,
zielt auf Anregung, Förderung und Unterstützung einer Auseinandersetzung
der Kinder mit ihrer Mit- und Umwelt. Aufgabe des Sachunterrichts ist
eine klärende Erschließung der für Kinder erfahrbaren
sozialen, natürlichen und technischen Welt unter realwissenschaftlichem
(sozial- und naturwissenschaftlichem) Bezug.
Sachunterricht nimmt kindliche Erfahrungen, Erlebnisse und kindliche Ansätze
der Wirklichkeitserschließung auf und führt sie weiter zu gültigen
Formen des Wissens und Könnens.
Im
Sachunterricht finden sinnliche Erfahrungen von Phänomenen und das
Selbertun in sozialen Interaktionen ihren didaktischen Ort, dabei greift
der Sachunterricht auf das Erklärungswissen der Fachwissenschaften
zurück.
Die
Themen orientieren sich nicht an Aspekten der Sachfächer, sondern
sind offen für Erfahrungen und Interessen der Kinder und übergreifende
Zusammenhänge. Über stoffliches Wissen hinaus, sind Ziele sozialen
Lernens der Bearbeitung der Themen immanent. Ziel des Sachunterrichts
ist die Anbahnung grundlegender Erfahrungen und Einsichten - die im weiterführenden
Unterricht differenziert und erweitert werden können. Verstehen hat
Vorrang vor stofflicher Fülle.
Didaktische
Konzeption
-
Verminderung
der Dominanz fachstruktureller Ansätze des Sachunterrichts.
-
Verringerung
der Vorbereitungsfunktion des Sachunterrichts für die Fächer
der weiterführenden Schulen.
-
Verstärkung
seiner Funktion als Anleitung und Unterstützung der (ungefächerten)
Orientierung in der Welt.
-
Verstärkung
der Orientierung an individuellen Zugangsweisen der Kinder (individuelle
Zugriffe, Zugänge, Motivationen) im Rahmen ihrer Auseinandersetzung
mit der Mit- und Umwelt und für sie bedeutsamen Gegenständen
(Sachen). Ausgehend von Erlebnissen, Handlungen und Situationen sowie
vom Erfahrungshorizont der Schüler/innen werden spezifische Lernwege
eingeschlagen, die auf den Erwerb von Handlungs- und Sachkompetenz
zielen.
-
Zu
bewahren gilt es die ursprüngliche Neugier der Kinder, ihre eher
spontane Zuwendung zur Welt, ihre Entdeckerfreude, ihre emotionalen
Beziehungen zu den Gegenständen. Zugleich sollen sie zunehmend
systematischeres Erkunden und differenzierte rationale Zugriffsweisen
erlernen.
Ziele
Erwerb
von Handlungs- und Sachkompetenz durch
-
Handeln,
das auf eigenen reflektierten ("begriffenen") Erfahrungen beruht,
-
Entwicklung
eines fortdauernden Interesses an neuen Erfahrungen und Sichtweisen,
-
Gewinnung
brauchbarere Begriffe zur Ordnung von Erfahrungen und zur Kommunikation
über Erfahrungen,
-
Erwerb
brauchbarer Erklärungsmodelle für Phänomene, Zusammenhänge,
- Erlernen
von Denk- und Untersuchungsweisen (Verfahren zur Informationsgewinnung
und -verarbeitung).
Sachunterricht
2000
Kernprobleme
heutigen Sachunterrichts
-
Bemühungen
um soziales Lernen im Sachunterricht (Freie Arbeit, Wochenplan) müssen
konstruktiv mit Formen sachbezogener Erkenntnisgewinnung (Beobachten,
Experimentieren, Beschaffen, Interpretieren und Darstellen von Informationen,
Anfertigen von Sachtexten) verbunden werden.
-
Eine
globales Dogma der Kindorientierung schwächt die Reflexion der
Bedingungen und Erfordernisse kindlichen Lernens, das über Alltagserfahrungen
hinausreicht und zu seiner Motivation sachbezogene Anregungen braucht.
-
Sachunterricht
läuft z. T. Gefahr, die Fehler des Heimatkundeunterrichts zu
wiederholen, inhaltsarm zu werden und an Bedeutung für den Bildungsprozeß
der Kinder zu verlieren. Unter dem Postulat der Kindorientierung droht
Sachunterricht in Beliebigkeit zu verfallen: die Auseinandersetzung
mit der Relevanz und Struktur der Lerninhalte und ihrer didaktischen
Aufbereitung wird zum Teil vernachlässigt. Sachunterricht reduziert
sich dann auf unsystematisches Arbeiten unter Orientierung an zufällig
vorhandenen Schülerinteressen - ohne Lernzuwachs für einzelne
wie alle Kinder.
-
Ein
verkürztes Verständnis von Motivation und Handlungsorientierung
führt dazu, daß Inhalte beliebig erscheinen, solange Kinder
beschäftigt sind und Spaß haben. Planungsüberlegungen
zum Sachunterricht werden von Fragen der Materialbeschaffung dominiert,
während Klärung der Inhalte und ihrer Struktur versäumt
wird.
- Um Lernprozesse
der Kinder (Zugriffsweisen auf die Sache) zu beobachten, zu bewerten
und zu fördern, bedarf es seitens der Lehrer/innen der konsequenten
Weiterentwicklung lern- und entwicklungspsychologischer Kenntnisse.
Literatur
Claussen,
Claus: Heimatkunde. In: Heckt/Sandfuchs (Hg.): Grundschule von A bis Z.
Braunschweig 1993.
Kaiser,
Astrid (Hg.): Lexikon Sachunterricht. Baltmannsweiler 1997.
Köhnlein,
Walter: Sachunterricht. In: Keck / Sandfuchs (Hg.): Wörterbuch
Schulpädagogik.
Bad Heilbrunn 1994.
Richter,
Dagmar: Sachunterricht - Ziele und Inhalte. Baltmannsweiler 2002.
Rohlfes,
Joachim: Gesamtunterricht. In: Keck / Sandfuchs (Hg.): Wörterbuch
Schulpädagogik. Bad Heilbrunn 1994.
Schaub,
Horst: Heimatkunde. In: Keck / Sandfuchs (Hg.): Wörterbuch Schulpädagogik.
Bad Heilbrunn 1994.
Schonig,
Bruno: Reformpädagogik. In: Lenzen, Dieter (Hg.): Pädagogische
Grundbegriffe. Reinbek 1989.
Schreier,
Helmut: Sachunterricht. In: Kohls, Eckhard (Hg.): Grundbegriffe zur Erziehung,
zum Lernen und Lehren in der Grundschule. Heinsberg 1994.
Dagmar Wilde / Seminarpapier
Fachseminar VU (D/SK)

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